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Auszeit

Auszeit - eine Panorama Fotografie

Wer viel und hart gearbeitet hat, viele Wochen, Tage und unzählige Stunden lang – der hat sich eine Pause redlich verdient. Wir sprechen vom wohlverdienten Urlaub, von der dringend benötigten Pause und wir freuen uns auf ganz viel „Zeit und Ruhe – nur für mich“.

Das steht uns zu. Urlaub. Das wurde in zähen Tarifverhandlungen so erkämpft, das haben wir klugerweise schon ganz gleich am Anfang des Jahres im betriebsinternen UrlaubsPlaner eingetragen … so, wie wir später am Strand schon früh am Morgen unsere Liegestühle mit der bewährten Besatzungsmacht Handtuch markieren werden. Der Termin steht schon seit Monaten fest. Mit rotem Filzschreiber steht da dick über zwei Wochen im Juli verteilt: MONI URLAUB !!! So gross sind die Buchstaben, dass sich da kein anderer Name hineinzwängen kann. Auch kein noch so kurzer Name … wie ULF oder UTE. Und jeden Tag an dem der Juli näher rückt, wird das Rot der Schrift intensiver, eindringlicher – verheissungsvoller.

Und dann zählen wir die Tage schon laut mit. Erzählen den Kolleginnen, dass wir nur noch acht Wochen aushalten müssen, und dann geht ́s endlich los. Acht Wochen, das sind 56 Tage oder 1.344 Stunden … und mit jedem Tag werden es 24 Stunden weniger. Und dann ist es irgendwann so weit: Dann sind die weißen Flächen auf dem Urlaubskalender bis auf wenige Zentimeter an das große rote „M“ von MONI URLAUB heran gerückt. IBIZA – ich komme!

Wald im Nebel mitten in einem See.

Die Arbeit ist eigentlich nicht wirklich anstrengend. Wenigstens nicht so, wie schwere körperliche Anstrengung auslaugt und müde macht. Das Anstrengende kommt ganz wo anders her. Es ist die Einförmigkeit der Tätigkeit. Die Routine. Das tägliche Einerlei von immer gleichen Abläufen. Punkt acht geht ́s los. Allerdings nur dann, wenn der Stau in der Innenstadt genau so ist, wie er immer ist: Nervig aber vorhersehbar. Wenn allerdings etwas Unvorhergesehenes passiert, ein Unfall oder Kanalarbeiten nach einem

Wasserrohrbruch … dann haut das mit Punkt acht nicht mehr hin. Auch wenn es uns täglich wieder nervt: Pünktlich um acht ist immer noch besser als eine halbe oder eine Stunde später. Die verlorene Zeit muss man nämlich abends länger bleiben … und dann ist man in der Todesfalle der Rush-Hour gefangen.

Acht bis vier. Jeden Tag. Montag bis Freitag. Januar bis Dezember. Von der Lehre bis zur Rente. Das ist so. Daran haben wir uns gewöhnt. Das muss so sein, das machen alle so, da kann man nichts machen … so ist das Leben.

Morgens freuen wir uns schon auf den Feierabend. Montags ist es besonders schwer. da liegt noch so schrecklich viel Woche vor uns … ab Mittwoch geht ́s dann wieder besser. Halbzeit. Die halbe Woche ist abgearbeitet und geschafft – endlich hinter uns gebracht. Dann ist schon bald Freitag … juhu … Wochenende. Und im Mai sind es nur noch 1.344 Stunden bis zum Urlaub. Die gehen auch noch rum. Das sitzen wir auf der linken Arschbacke ab. Das ist in jedem Jahr immer wieder das Selbe: Die Zeit vom Frühling bis zum Sommer vergeht viel schneller als der behäbige Herbst, der zum Winter hin in immer länger werdenden Nächten langsam festzufrieren scheint. Es gefällt uns, dass die Zeit endlich wieder schneller vergeht und wir freuen uns, dass wir das endlos lange Warten bald hinter uns haben. Voll ungeduldiger Erwartung schauen wir auf das, was alles noch kommen kann und kommen wird.

Eigentlich freuen wir uns auf den Tod.

Wenn wir diese alte Gewohnheit unseres Geistes einmal wirklich ganz zu Ende denken, dann tun wir das tatsächlich. Wer sich morgens schon freut, dass es bald Abend wird, am Wochenanfang das Wochenende nicht abwarten kann und sich im Winter schon auf den Sommer freut … der gewöhnt sich unmerklich aber sicher an eine fatale Lebenshaltung: Sich JETZT auf SPÄTER freuen. Das KOMMENDE für wichtiger halten, als das, was JETZT ist. Das VERSPRECHEN einer ZUKUNFT für wertvoller erachten, als das WIRKLICHE der GEGENWART.

Wenn man Zahnschmerzen hat, dann darf man sich gerne nach dem Ende, der Qualen sehnen. Und wenn man jetzt in komplexen Problemen verstrickt ist, mag man sich gerne nach raschen Lösungen in der Zukunft sehnen. Und wenn wir im Augenblick nicht so recht wissen, was das Richtige ist, müssen wir natürlich mit Geduld und langem Atem an jener Klarheit arbeiten, die erst dann entsteht, wenn die jetzige Verwirrung zu Ende geht und sich für die Zukunft neue Perspektiven eröffnet haben. All das ist kein Problem.

Zum Problem wird diese Haltung erst, wenn sie sich verselbständigt hat. Wenn sich durch jahrelange Gewöhnung Verhaltens-Muster gebildet haben, die sich durch ständige Wiederholung zu festen Gewohnheits Mustern eingeschliffen haben. Wir haben uns daran gewöhnt, Montage prinzipiell blöd zu finden, die sogenannte „Freizeit“ für besser zu halten, als die „Unfreizeit“. Wir haben unser Leben aufgeteilt in Geschäftszeiten und Feierabend, in Job und Urlaub, in Alltag und Freizeit – und wir versuchen unsere Lebenszeit neuerdings sogar in Begriffen von Zeit und Auszeit aufzuteilen.

Auszeit – das gibt es gar nicht.

Physikalisch jedenfalls nicht. Selbst die wenigen Menschen, die Einsteins Relativitätstheorie von der Wirklichkeit und dem Unwirklichen der Zeit verstehen können, werden vermutlich den derzeit modern gewordenen Begriff der Auszeit nicht wirklich nachvollziehen können. Die Wurzeln des Wortes AUSZEIT liegen im Sport. Dort werden Spieler eines Teams zu bestimmten Zeiten aus dem Spiel genommen und die dürfen dann auf der Ersatz- oder auf der Strafbank eine sogenannte Auszeit nehmen. Dabei geht das Spiel dennoch weiter. Für alle – außer dem, der am Spielfeldrand wieder auf seinen neuen Einsatz warten muss. So lange, bis die Auszeit wieder zu Ende ist. Die Zeit nämlich vergeht trotzdem. Nur wir spielen einfach nicht mehr mit.

Die Idee einer Auszeit ist natürlich naheliegend. Der Wunsch, einmal aus allem einfach nur noch auszusteigen, ist nachvollziehbar und durchaus legitim. Wer viel und intensiv arbeitet, braucht Pausen. Um sich auszuruhen, zur Erholung und zur Regeneration. Jede Pause hat einen Anfang, eine Mitte und ein Ende. Dazwischen vergeht die Zeit genau so, wie außerhalb der Pausen. Sie unterliegen den gleichen physikalischen Gesetzmäßigkeiten, wie die Zeit davor, danach und zwischendrin. Das klingt banal und selbstverständlich. Bemerkenswert und erstaunlich ist, dass wir Pausen emotional ganz anders empfinden und bewerten, als sie im Grunde genommen tatsächlich sind.

Pausen empfinden wir als die VIP ́s der Zeitrechnung. Es gibt die gewöhnlich und normal ablaufende Zeit – wie man sie z. B. bei der Arbeit oder während der Schulzeit erlebt, und es gibt Pausen, Ferien, Urlaub und neuerdings auch die Auszeit. Diese Zeiten haben eine besondere Bedeutung für uns. Sie sind wertvoller und wichtiger als all die Tage davor. Ferientage passen nicht zum Grau des Arbeitalltags. Farbenprächtig und vielversprechend stechen sie heraus aus dem Eintopf des Gewöhnlichen. Mit den vielfältigsten Erwartungen haben wir sie aufgeladen mit Bildern, Ideen, Wünschen, Hoffnungen und Ansprüchen. So fiebern wir dem Traumurlaub entgegen – so hoffen wir auf eine Super Ausnahme Zeit.

Wenn wir in Urlaub fahren, dann am liebsten in ferne Länder und an Orte, die ganz anders sind, als das, was wir bereits kennen und an das wir uns seit vielen Jahren gewöhnt haben. Die ersten Stunden am Traumstrand sind atemberaubend. Malerische Sonnenuntergänge, berauschende Cocktails und exotische Ureinwohner. Alles neu und intensiv, aufregend und faszinierend. Dieses Gefühl hält mehrere Tage lang. Am besten wäre, das würde ewig so weiter gehen. So denken wir Tage, Wochen, vielleicht Monate lang. Und irgendwann haben wir uns Tag für Tag unmerklich an den Blick von der Terrasse aufs Meer gewöhnt. Der Sonnenuntergang ist zwar immer noch atemberaubend schön, aber jeden Tag das gleiche Meer und der gleiche Blick machen Sonne und Meer zu einer Gewohnheit. Jeden Tag schönes Wetter ist nur so lange schön, bis es endlich wieder einmal regnet und die Gewohnheit unterbrochen wird.

Auch an einen Traum-Urlaub kann man sich gewöhnen.

Weil auch Träume zur Gewohnheit werden. Wenn sie nur lang genug geträumt, oft genug wiederholt und dadurch Schritt für Schritt gleichförmig und vorhersehbar geworden sind. Das Problem mit Gewohnheit und Alltag liegt weder am Ort noch an der Zeit. Es liegt an unserer Haltung und Einstellung zu Orten und Zeiten. Wenn wir fremden und exotischen Orten einen höheren Stellenwert geben, als den altbekannten und wenn wir der Auszeit oder den Pausen mehr Bedeutung zumessen als den Zeiten davor, danach und mittendrin, dann lösen wir durch keinen Ortswechsel der Welt das fundamentale Problem: Nicht da sein zu können, wo wir sind und den Augenblick nicht dann zu erleben, wann er passiert.

Die Fähigkeit oder Unfähigkeit, jetzt hier zu sein ist der Schlüssel. Wer nicht hier HIER sein kann, kann woanders vermutlich auch nicht HIER sein. Denn wenn man an einem anderen noch so fernen Ort ist, wird dieser neue Ort das einzige HIER, das wir haben können. HIER ist immer HIER. Hier oder dort. Dort, wo wir mit unserem ganzen Wesen – also mit Körper und Geist und mit Herz und Verstand sind – dort ist HIER immer HIER. Ein anderes Hier, als das, wo wir JETZT gerade sind, gibt es gar nicht.

Und ein anderes JETZT als das JETZT in diesem Augenblick gibt es auch nicht. Sicherlich dürfen wir uns auf den Urlaub im kommenden Juli schon lange vorher freuen … aber auch diese Vor-Freude ist immer nur JETZT. Und wenn unser tatsächliches Erleben im Juli am

Strand von Ipanema Wirklichkeit geworden ist, muss er mit dem Ideal-Bild der Vor-Freude abgeglichen werden. Unglücklicherweise sind fast alle Vor-Stellungen Ideal-Bilder … Bilder, die einer Idee und allzu oft einem Ideal folgen bzw. genauer gesagt vorhergehen. Und dann ist eines fast schon vorprogrammiert – die Enttäuschung.

Dass der Strand nicht so makellos weiß ist, wie im Prospekt, dass die Einheimischen zu uns leider nicht so freundlich sind, wie in den Erzählungen anderer Reisender und dass das Wetter ganz anders ist, als im Wetterbericht vorhergesagt. Oder aber alles ist viel schöner, als man sich vorgestellt hat. Dazu muss man sich allerdings die Urlaubstage nicht so schön, nicht so ideal vorstellen. Wenn man pessimistisch und mit großer Skepsis dem kommenden Urlaub entgegensieht, kann man der Enttäuschung zwar zuvorkommen … aber wer will denn mit jemandem in Urlaub fahren, dessen Blick in die Zukunft von Ängsten, Befürchtungen, Vorahnungen und Zweifeln getrübt ist.

Ein offener Blick tut not.

Einer, der nicht schon im Vorfeld zu wissen glaubt, was geschehen soll. Eine Sichtweise, die für Neues und Unvorhergesehenes offen ist. Ein Blick, der nicht von Vorstellungen verstellt und von Wünschen, Hoffnungen, Erwartungen und Befürchtungen belastet und vielleicht sogar heillos überlastet ist. Eine Art zu sehen, die dem Ungeplanten, dem Spontanen und dem Kreativen Raum lässt, uns zu überraschen und uns zu verzaubern. Zauber geschieht niemals geplant. Die Magie des Augenblicks wird nicht am Reißbrett von Zukunftstechnikern entworfen … sie entsteht immer dann, wenn zwei Dinge zusammen kommen.

KÖRPER und GEIST – HIER und JETZT

Wenn wir ganz HIER sind, mit Körper und Geist und wenn wir ganz JETZT sind, mit Herz und Verstand. Dann kann uns die Wucht der Wirklichkeit mit ihrem ganzen Potential vom Hocker der Gewohnheit hauen, da kann der launische Wind der Absichtslosigkeit uns frische Luft ins Gesicht blasen und der Zufall kann seine Wundertüte voller Überraschungen über uns ausschütten.

Wir aber – wir leben überall. Nur nicht HIER – nur nicht JETZT.

Wir können auf den Mond fliegen, komplizierte Smartphones bauen oder benutzen und können komplizierte Organisations-Strukturen entwickeln oder in ihnen reibungslos funktionieren. Wir können in die entlegensten Winkel der Welt reisen und haben Wissen über längst vergangene Jahrtausende oder klare Vorstellungen, was uns die Zukunft einmal bringen wird. Wenn wir ganz genau hinsehen, bemerken wir, dass wir entweder in der Zukunft oder in der Vergangenheit leben. Jede Wahrnehmung unseres Lebens, jeder Gedanke und jede Reflektion beschäftigt sich entweder mit etwas, das schon vergangen ist oder mit etwas, was vielleicht in der Zukunft geschehen soll oder wird. JEDER Gedanke! IMMER! Genauer gesagt – FAST jeder. Von den hunderttausend Gedanken- Impulsen eines Nachmittags beschäftigen sich vielleicht drei oder vier mit dem Augenblick HIER und JETZT. Alle übrig gebliebenen Gedanken gehören der Vergangenheit oder der Zukunft.

Alle vergangenen Augenblicke sind unwiederbringlich vorüber und alle zukünftigen Erlebnisse bleiben solange ungelebte Möglichkeit und eine unwirkliche Idee … bis jede nahe oder ferne Zukunft JETZT geworden ist. Wirklichkeit findet immer nur JETZT statt.

HIER und JETZT zu erleben, kann man lernen. Muss man wieder lernen. Als Kind haben wir noch gewusst, wie das geht. Wenn wir in unserem Spiel versunken waren … und es noch keine Trennung gab, zwischen Erlebnis und dem, der das gerade jetzt erlebt.Wir und unser Erleben waren eins. Können wieder eins werden. Wir haben es nur verlernt … diese Fähigkeit ist nur verschütt gegangen, überlagert von Erwachsen sein und von Vernunft und vom Ernst des Lebens. Dieses weit offene Land können wir uns wieder zurück erobern. Mit nicht allzuviel Aufwand wird uns das auch mühelos gelingen.

Diese Bemühung heißt Meditation.

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