Wie ich mal dem Dalai Lama begegnet bin.

1982 traf ich in Frankfurt bei der Buchmesse den Dalai Lama. Genauer gesagt, bin ich mehr oder weniger in ihn hineingerannt.
Kurz vor Messe-Ende stürmte ich mit eiligen Schritten aus Halle 5.0 um in Halle 7 noch einige Geschäftspartner zu treffen. Schwungvoll riss ich die Türen auf und stehe unvermittelt dem Dalai Lama gegenüber. Nein, ich hatte ihn nicht berührt … aber ich war fast mit ihm zusammengestossen. Er führte eine kleine Entourage von Begleitern mit sich … genauer gesagt führte er die Gruppe an und zog sie wie eine Entenmama ihre Jungen nach sich. Es schien mir, als wolle er im gleichen Schwung in die Halle hinein, aus der ich in großer Eile entfliehen wollte. Ich sprang zur Seite und machte der kleinen Gruppe Platz.
Damals war der Dalai Lama noch nicht jedem Kind auf der ganzen Welt bekannt. Ein erstes Buch über ihn und sein Leben war auf Deutsch im Dianus Trikont Verlag erschienen. Und dieser Verlag hatte seinen Stand in Halle 5.0.
Ohne einen Augenblick zu zögern änderte ich meine Pläne und ging auf direktem Weg zu besagtem Messestand. Dort warteten Fotografen und dann war er schon da: Der Dalai Lama. Das Oberhaupt der Buddhisten. Die Verkörperung von Avalokiteshvara, dem Buddha des grenzenlosen Mitgefühls.
Schnell hatte sich eine Traube von Menschen um ihn geschart. Er schüttelte Hände (ironischerweise u.a. mit dem katzbuckelnden Verlagsinhaber, der heute, 30 Jahre später, einer seiner erbittertsten Gegner und Feinde geworden ist), und ließ sich lächelnd fotografieren. Immer mehr Menschen kamen und die Traube um ihn herum verdichtete sich zu einem massiven Gebilde aus Neugier und Vorwitz. Da ich mich mit der Gebäudesituation der Frankfurter Messe seit Jahren schon recht gut auskannte, wusste ich, was der Dalai Lama tun würde, um sich nicht durch die größer werdende Schar der Neugierigen hindurchkämpfen zu müssen.
Bevor das Oberhaupt der Tibeter erste Anstalten zum Gehen machte, hatte ich mich aus der Menschentraube herausgelöst und bin zu einem der hinteren Notausgänge gegangen … öffnete die Stahltür und stand direkt vor einer großen schwarzen Limousine in der ein uniformierter Fahrer mit laufendem Motor auf seinen VIP Gast wartete. Ich stellte mich auf die gegenüberliegende Seite des Autos … zwischen einem hohen Maschendrahtzaun und großen Müllcontainern und wartete.
Keine 5 Minuten waren vergangen, da öffnete sich die Tür der Halle und wieder stand der Dalai Lama – diesmal nur von zwei Begleitern flankiert – mir unmittelbar gegenüber. Eine Kofferraum-Breite weit entfernt. Obwohl ich in meinem dunkelblauen italienischen Anzug mit passender Krawatte ganz und gar nicht so aussah, war ich doch einer der wenigen westlichen Buddhisten der ersten Generation sozusagen. Ich hatte im Kloster Zen praktiziert und war Schüler eines tibetischen Lamas geworden. Ich wußte, wer vor mir stand:
Es war die Emanation des Buddha Avalokiteshvara … ein lebendiger Buddha.
Das rote Gewand nach uralter Vorschrift gefaltet ließ den rechten Arm frei. Auf dem nackten kräftigen Oberarm hatte der Dalai Lama einen Pickel. Kein großer Pickel … ein ganz normaler, so wie jeder schon mal einen gehabt hat in seinem Leben. Ein Pickel, den man bei jedem anderen Menschen übersehen oder ignoriert hätte … hier beim Dalai Lama stach er endlos groß und mächtig in mein Auge. Buddha Avalokiteshvara hatte Pickel ! Unfassbar !
Mein Auge konnte sich kaum wegreißen von der monumental gewordenen Hautunreinheit Seiner Heiligkeit … da bemerkte ich dass seine gütigen Augen von meinem Erstaunen beeindruckt gewesen sein könnten. Sein Blick ruhte sanft und aufmerksam auf meinem Gesicht und mein Blick wurde diesmal von etwas ganz anderem in Beschlag genommen: Von der Brille Seiner Heiligkeit.
Avalokiteshvara – der Buddha des grenzenlosen Mitgefühls war kurzsichtig !
Mindesten 3,5 Dioptrien dacht ich mir. Und dann steckten diese dicken Brillengläser in einem unfassbar hässlichen Brillengestell. Eines, das man von seiner Krankenkasse umsonst bekommt, wenn man sich die hochwertigeren Fassungen nicht leisten kann. Ein sogenanntes Kassengestell !
Inzwischen schien sein Blick sich über mein kindliches Staunen zu amüsieren. Plötzlich wachte ich wie aus einer Trance auf, als ich sein mildes Lächeln sah. Dann war ich auf ein mal ganz da. Ich sollte mich verbeugen, dachte ich. Die Hand geben ? Nein … das wäre anmassend und übergriffig. Aber verbeugen, so wie ich es schon unzählige Male vor den hölzernen Buddhas der Zen Klöster gemacht hatte. Die Hände falten zum Gasho – wie es im Zen heißt – oder in der Mudra des Anjali … dann den Kopf neigen in Ehrfurcht und Bescheidenheit … dem Buddha Ehre erweisen, seine Hingabe und Demut zum Ausdruck bringen … in einer einzigen tiefen Verbeugung.
Aber das konnte ich plötzlich nicht mehr. Eingefroren. Schockstarre. Ich war keiner dieser Speichellecker, keiner dieser devoten Gläubigen, kein buckelnder Verehrer von jemandem, der Pickel hatte wie ich und kurzsichtig war wie so viele in dieser Welt.
Der Dalai Lama schien meinen inneren Konflikt glasklar zu sehen. Während wir uns fest und klar in die Augen schauten … mein Blick mutig, aufrecht, unnachgiebig und stolz und sein Blick sanft, warm, wohlmeinend und sichtlich von diesem stillen Schauspiel amüsiert … schenkte er mir das zauberhafteste Buddha-Lachen das man sich vorstellen kann.
Ich lächelte zurück, immer noch steif und gerade … aber mit offenem Lachen in Augen, Herz und Mund. Der Dalai Lama bestieg immer noch lächelnd die Limousine, die Türe wurde geschlossen und der Wagen fuhr die trostlose Industriegebiets-Strecke zwischen Maschendraht und Blechcontainern davon. Ich blieb in meinem dunkelblauen Designeranzug allein zurück.
Jung, aufrecht, gutaussehend. Ein Buddhist der neuen Generation. Smart, clever und unkorrupt. Ein Bodhisattva – Krieger, mutig, gerade, stolz.
Der Wagen war verschwunden. Alles um mich herum wurde plötzlich grau. Tief grau. Und dann schossen mir die Tränen in die Augen. Urplötzlich und wie aus heiterem Himmel. Ich, der so gut wie niemals weinte …. einer der sich mit 12 oder 14 geschworen hatte, keinen Moment der Schwäche zuzulassen und seither auch gar nicht mehr weinen konnte, auch wenn er es gewollt hätte … dieser jemand wurde unvermittelt von endlosem Schmerz übermannt. Niedergestreckt müsste man sagen, denn meine aufrechte Haltung fiel in sich zusammen, kollabierte regelrecht. Tränen strömten in dicken Bächen über meine Wangen, Schleim und Rotz lief in dicken Flüssen aus meiner Nase, mein stilles Schuchzen wurde zu einem lauten Heulen … wie Tiere heulen mögen, wenn sie waidwund geschossen sind und in unendlichem Schmerz ihr Leben lassen müssen.
Klebrige Rotze, Tränen, Sabber aus dem Mund liefen über Gesicht und Kragen … der Anzug von oben bis unten aufgeweicht und nass – klebrig, schleimig zugerotzt. Mir war das alles egal. Nur Weinen. Weinen Weinen Weinen. All den Schmerz hinaus weinen. All die tausend ungeweinten Tränen.
Wie weh mein aufgeblasenes Ego tut. Wie schmerzhaft Arroganz sein kann. Wie falsch der Stolz, wie verknöchert die Härte … wie verloren man sein kann … besonders dann, wenn man sich ganz und gut und richtig wähnt.
Lange stand ich da. Weggeworfen zwischen Müllcontainern. Grau geworden im Grau kalter Industrielandschaft. Über eine Stunde lang hat es gedauert. Bis ich keine Tränen mehr hatte. Bis sie alle verschwendet waren. Bis ich ganz leer war. Selbst für Schmerz war kein Platz.
Langsam richtete ich mich wieder auf, stolz und gerade, drehte mich in die Richtung in der der Wagen des lebenden Buddha hin verschwunden war, faltete die Hände vor der Brust, verbeugte mich tief und voller Dankbarkeit. Als ich mich wieder aufrichtete war ein Teil von mir ein anderer geworden.
Still und vorsichtig kam das Lächeln zurück.
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